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Geschwistertrauer

Unsere Kleine war in erster Reihe bei allem, das David betraf, mit dabei. Von kurz nach seiner Geburt, bis zum Absenken von Davids Sarg in sein Grab. Alles hat sie miterlebt. Miterleben dürfen. Miterleben wollen. Sie war dabei. Sie konnte die Zusammenhänge erkennen und nachvollziehen. Kein Puzzleteil fehlt ihr. Es gibt keinen blinden Fleck, der mit lebhafter, gruseliger Fantasie gefüllt werden kann. 


Für viele mag diese Art des Umgangs mit dem Tod unvorstellbar sein. Für uns war es so genau richtig. Und auch rückblickend sind wir froh, dass unsere Kleine alles miterleben konnte. Vieles wäre in dieser Form wohl nicht möglich gewesen, wäre David in einer Klinik geboren worden und gestorben.


Wenn das Thema Geschwister aufkommt, oder das Wort Bruder fällt, kombiniert unsere Kleine sofort: "Der David ist mein Bruder. Aber der ist in die Erde gekommen." Auch sie vermisst ihn. Sie fragt manchmal, ob wir den David nicht wieder haben können. Dann erklären wir ihr wieder, dass David leider nicht bei uns bleiben konnte, weil er sehr krank war. Sie hat ihn noch in den Armen gehalten, als er schon über einen Tag gestorben war. So konnte sie selbst spüren, was es bedeutet, tot zu sein. David fühlte sich nicht an wie ein lebendiges Baby. Er war kalt und fest. Atmete nicht. Bewegte sich nicht. Hatte keine rosige Farbe. Machte keinen Laut.

Sie hielt ihren Bruder trotzdem im Arm. Wollte ihn im Arm halten. Vielleicht auch um zu begreifen was da passiert war.


Eine Zeit lang nannte unsere Kleine ihre Lieblingspuppe David. Sie nahm die Puppe den ganzen Tag über überall mit hin. Egal in welches Zimmer sie ging, David musste mit. Gerade zwei Jahre alt geworden, sagte sie zu uns: "Mama, ich hab den David. Da. Du kannst ihn auch mal nehmen" und legte uns ihre Puppe in den Arm. Das ging mehrere Wochen so. Danach war die Puppe für viele Monate total uninteressant für sie. 


Aber auch ohne Davidpuppe, spricht sie oft von ihrem kleinen Bruder. Oft ganz unvermittelt aus dem Spiel heraus. Manchmal fragt sie welche Erinnerungsstücke wir von David haben. Dann holen wir seine Erinnerungsschatzkiste und sehen uns gemeinsam an, was sich alles darin befindet: Fotos, der Mutterpass, die gleichen gehäkelte Herzen, die wir auch zu David in den Sarg gelegt hatten, die Schere, mit der wir seine Nabelschnur durchtrennt hatten und noch ein paar wertvolle Erinnerungsschätze. 

Oder wir gehen gemeinsam durch die Wohnung und sehen uns um, wo wir überall Erinnerungsstücke entdecken können: Fotos, Figuren und Gegenstände, die uns liebe Menschen geschenkt haben, Davids Kerze, Davids Geburtskissen, ein Kuscheltier aus den Kleidungsstücken, die wir bei Davids Geburt getragen hatten. 


Vor kurzem bat mich unsere Kleine ein Foto von David von der Wand abzunehmen und ihr zu geben. Sie saß auf dem Boden und legte sich das Bild auf die Beine. Am unteren Rand sahen gerade noch die Füße heraus, so groß ist das Bild. Sie machte angestrengte Geräusche und sagte "Der David versucht aus dem Bild heraus zu kommen. Hilf ihm Mama." Also reichte ich ihm meine Hand und tat so als zöge ich ihn aus dem Bild heraus. Unsere Kleine war glücklich. Sie spielte kurz mit ihm, als habe sie ihn im Arm und ging dann wieder zu etwas anderem über.


Und eine liebe Freundin erzählte mir vor kurzem, dass ihr Sternenkind manchmal zu Besuch kommt, um mit seiner großen Schwester zu spielen.


Auch wenn ich selbst mir diese kindliche Fantasie nicht bis ins Erwachsenenleben bewahren konnte, bin ich trotzdem überaus froh und dankbar, dass unsere Kinder Wege finden, um sich ihr verstorbenes Geschwisterchen für kurze Zeit herbei träumen können. Ich bin überzeugt, dass sie dies nicht für immer brauchen werden. Aber wenn die Sehnsucht zu groß wird kann es ihnen helfen, den Schmerz in etwas positives zu kehren: In Spiel. In Kuscheln. In Nähe. In Liebe. Denn nichts anderes ist es. Nur wen wir lieben, vermissen wir. Am Ende ist alles Liebe.


Davids Mama

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Kommentare: 1
  • #1

    Tanja (Mittwoch, 24 Januar 2018 19:41)

    Liebe Sandra,
    ich lese eure Blogeinträge immer sehr gespannt. Diesmal hat er mir wieder besonders gefallen. Zu sehen wie David so sellbstverständlich zu Lenas Alltag gehört ist wunderbar. Sie hatte großes Glück ihren Bruder kennen gelernt zu haben und zu wissen wer am anderen Ende des unsichtbaren Bandes sitzt. Ich bin mir sicher, alle Geschwister besitzen so ein unsichtbares Band und das ist auch gut so. Bei uns gibt es zur Zeit auch viele unsichtbare Freunde. Die Vorstellung, dass da manchmal vielleicht mehr ist, als wir Erwachsene sehen, finde ich wahnsinnig tröstlich.
    Schön zu sehen, dass es Euch (meistens) wieder besser geht und ihr positiv in die Zukunft schaut. Ganz liebe Grüße, Tanja